Datum:
05.06.2002
|
Zeitung:
Jungle World
|
Titel:
Fragen über Fragen
|
Fragen über Fragen
Trotz der Freilassung von Harald Glöde ist keine Wende im
Berliner RZ-Prozess in Sicht.
Harald Glöde ist frei. Als letzter der fünf Angeklagten
im Berliner RZ-Prozess konnte der 53jährige am Dienstag der
vergangenen Woche nach über 28 Monaten Untersuchungshaft die
JVA Berlin-Moabit gegen eine Kaution von 60 000 Euro verlassen.
Gegen die Angeklagten wird seit über einem Jahr vor dem Ersten
Strafsenat des Berliner Kammergerichts wegen Mitgliedschaft in den
Revolutionären Zellen (RZ) und der Beteiligung an mehreren
RZ-Aktionen Ende der achtziger Jahre verhandelt.
Offiziell setzte das Gericht den Vollzug des Haftbefehls aus, weil
Glödes Mutter schwer erkrankt ist. Doch der eigentliche Grund
dafür dürfte ein Beschluss des Bundesgerichtshofs vom
25. April sein. Wegen einer Haftbeschwerde von Glödes Anwältinnen
Silke Studzinsky und Andrea Würdinger wollte der BGH einer
Verlängerung der U-Haft nicht noch einmal zustimmen. Entweder
das Gericht könne ein absehbares Ende des Prozesses benennen
oder alle Angeklagten müssten bei der nächsten Haftprüfung
raus, lautete die Anweisung aus Karlsruhe.
Nacheinander waren in den letzten Monaten alle Angeklagten aus
der Haft entlassen worden. Bei dreien von ihnen setzte das Gericht
nach einer Einlassung zur Sache den Haftbefehl außer Vollzug.
Im Januar profitierten von dieser an deutschen Gerichten gängigen
Praxis, die das Recht von Angeklagten, sich nicht zur Sache äußern
zu müssen, faktisch aushebelt, der Angeklagte Rudolf Schindler
und seine mitangeklagte Ehefrau Sabine Eckle. Schindler hatte eingeräumt,
dass er an den beiden Knieschussattentaten 1986 auf den Chef der
Berliner Ausländerbehörde, Harald Hollenberg, und 1987
auf den Vorsitzenden Richter am Asylsenat des Bundesverwaltungsgerichts,
Günter Korbmacher, beteiligt gewesen war. Zugleich machte er
deutlich, dass der Kronzeuge der Bundesanwaltschaft (BAW), Tarek
Mousli, bei den Aktionen eine aktive Rolle spielte und nicht "nur
Schmiere stand".
Ende Februar kam auch der ehemalige Hausmeister im Kreuzberger
Mehringhof, Axel Haug, aus dem Gefängnis. In einer persönlichen
Erklärung führte er vor Gericht aus, dass er 1986 innerhalb
der RZ-Strukturen an der Diskussion über die so genannte Flüchtlingskampagne
beteiligt war und sich um praktische Hilfe für
die beiden "Illegalen" Schindler und Eckle kümmerte.
Da er jedoch unter anderem wegen der Ermittlungen des Bundeskriminalamtes
(BKA) gegen die Zeitschrift radikal ins Visier der Fahnder geriet,
habe er sich schon 1988 von der RZ getrennt.
An Anschlägen sei er nicht beteiligt gewesen, und, anders
als Mousli behauptet, habe es auch ein Sprengstoffdepot im Mehringhof
während seiner Zeit als Hausmeister nicht gegeben. Andere Zeugen
bestätigten dies vor Gericht, und selbst das BKA konnte bei
zwei Durchsuchungen keine entsprechenden Spuren entdecken.
Wegen eines tragischen Unfalls eines nahen Familienangehörigen
kam kurz darauf der ehemalige Leiter des Ausländeramtes der
Technischen Universität Berlin, Matthias Borgmann, gegen eine
Kaution in Höhe von 50 000 Euro in Freiheit.
So unkompliziert geht es bei der Beweiserhebung nicht zu, der Prozess
zieht sich deswegen unerträglich in die Länge. Die Erwartung,
mit den Einlassungen der Anklage den Boden unter den Füßen
wegzuziehen, hat sich bisher nicht erfüllt. Vielmehr fasst
das Gericht die Ausführungen als Teilgeständnisse auf,
mit denen im Kern die Aussagen Mouslis bestätigt worden seien.
Sämtliche Ausführungen
von Schindler und Haug, die den Schilderungen Mouslis erheblich
widersprechen, werden als "Schutzbehauptungen" abgetan.
Und das, obwohl jetzt zumindest "Aussage gegen Aussage"
stehen müsste. Auch der Versuch von Glödes Anwältinnen,
Mouslis Aussagen mit akribischen Detailfragen zu widerlegen, blieb
bislang ohne Folgen. Zwar verwickelte sich Mousli seit dem Prozessbeginn
immer mehr in
Widersprüche. Doch machten er und die vor Gericht auftretenden
Ermittlungsbeamten des BKA bei Widersprüchen in ihren Aussagen
vermeintliche Erinnerungslücken geltend. Vor zwei Wochen wurde
Mousli als Zeuge vom Gericht entlassen. Die Verteidigerinnen kündigten
schon an, dass sie noch "über 100 weitere Fragen"
an den Kronzeugen hätten.
Insbesondere, was den Anschlag auf die Zentrale Sozialhilfestelle
für Asylbewerber angeht, konnte die Verteidigung von Glöde
deutlich machen, dass es so, wie es Mousli erzählt, nicht gewesen
sein kann. Es ist völlig unglaubwürdig, dass sich fast
alle Berliner RZ-Mitglieder auf einem nahe gelegenen Bahndamm zur
Absicherung der Aktion versammelt haben sollen, nur damit der spätere
Kronzeuge sie als Beteiligte zu Gesicht bekommt.
Inzwischen scheint es sogar dem Gericht klar zu werden, dass im
Mehringhof nie Sprengstoff versteckt war. Wohl aus Angst vor weiteren
unangenehmen Enthüllungen wagt die Richterin Gisela Henning
es nicht, die Glaubwürdigkeit des Kronzeugen in Frage zu stellen.
Dies wird auch bei der Frage nach dem angeblich in einem
Wassergraben bei Berlin-Buch versteckten Sprengstoff deutlich.
So, wie Mousli und diverse BKA-Beamte die Suche und den Fund des
Sprengstoffs schildern, kann es von den örtlichen Gegebenheiten
her nicht gewesen sein. Es wird immer offensichtlicher, dass es
eine Geschichte hinter den Geschichten Mouslis gibt. Hat das BKA
nicht doch schon 1995 den zufällig gefundenen Sprengstoff den
RZ
zugeordnet? Wurde dann das Verfahren möglicherweise an den
Verfassungsschutz (VS) abgegeben? Und gab es dieser dann 1998 an
das BKA zurück? Was hatte Mousli bei den diversen Besuchen
von Beamten des VS während seiner Haftzeit mit ihnen zu besprechen?
Ob sich solche Fragen in diesem Verfahren noch klären lassen?
Wohl kaum. Vielmehr hat das Gericht vor kurzem angeordnet, dass
nun die Stasi-Akten über die Carlos-Gruppe hinzugezogen werden
sollen. Und auch die BAW legte nach und erweiterte die Anklage gegen
Sabine Eckle und Matthias Borgmann auf "Rädelsführerschaft"
in den RZ. Denn bei der augenblicklichen Beweislage müsste
Eckle wegen Verjährung freigesprochen werden. Einfache Mitgliedschaft
verjährt nach zehn, Rädelsführerschaft erst nach
15 Jahren. Und bei Borgmann fehlen weiterhin alle Beweise, dass
er "Heiner" gewesen sein soll.
Doch genau deshalb erweitert man mal eben die Anklage. Die ursprünglich
vom Gericht anvisierte Urteilsverkündung am 20. September dieses
Jahres ist in weite Ferne gerückt. Selbst wenn alle bis jetzt
gestellten Beweisanträge der Verteidigung abgearbeitet werden,
muss noch mit bis zu neun Monaten Verhandlungsdauer gerechnet werden.
Seit Ende April wird sogar von der Verteidigung gegen Mousli juristisch
vorgegangen. Auf neun Seiten versucht sie, Mousli nachzuweisen,
dass er 60 000 Mark, die er Mitte der neunziger Jahre zur Unterstützung
der "Illegalen" der RZ erhalten hat, in die eigene Tasche
gesteckt habe. "Wir erstatten hiermit Strafanzeige gegen den
Zeugen Mousli. Weitere werden folgen."
Christoph Villinger
|